Das Tagebuch: Kapitel 1.1 – Der Umzug, die Selbstzweifel und die Ankunft
- Das Tagebuch: Kapitel 1.0 – Prolog
- Das Tagebuch: Kapitel 1.1 – Der Umzug, die Selbstzweifel und die Ankunft
- Das Tagebuch: Kapitel 1.2 – Das Haus
21. April 2025
Ich habe gepackt. Oder eher: Ich habe ausgepackt, im Sinne von „aussortiert“.
Fast alles bleibt zurück. Die Möbel, die Erinnerungen, die Staubschichten eines alten Lebens. Ich nehme nur das Nötigste mit: ein paar Kisten, Kleidung, ein paar Bücher. Mein altes Notizbuch – dieses hier. Und eine Thermoskanne, weil mir Nadine mal gesagt hat, dass sie mich damit wie einen alten Mann findet. Ich glaube, deshalb nehme ich sie mit.
Es fühlt sich an, als würde ich aufbrechen in etwas, das weder Ziel noch Richtung kennt.
Wie nennt man das? Flucht? Aufbruch? Kapitulation?
Die Fahrt war lang. Zu lang. Ich hatte das Gefühl, mit jeder Stunde auf der Autobahn verschwinde ich mehr aus der Welt, in der ich bisher existiert habe. Das Navi spuckte die Adresse nicht aus. Kein Wunder. Dieses Dorf – oder was auch immer es ist – scheint von keiner digitalen Karte erfasst zu sein. Ich ließ mich in den nächstgelegenen Ort leiten. Von dort aus wollte ich fragen.
Ich hielt an einer alten Tankstelle. Eine von denen mit klappernder Türglocke, warmem Licht und einem Kassierer, der aussah, als hätte er seit Jahren nichts mehr erlebt, was ihn wirklich überraschte.
Ich fragte nach dem Weg.
Er sah mich einen Moment lang einfach nur an. Dann lachte er trocken und schüttelte den Kopf.
„Dort will niemand hin. Und wenn doch, sollte er besser umdrehen, solange er kann.“
Ich wollte wissen, warum.
Er sagte nur: „Das Haus nimmt. Es gibt nichts, was man ihm geben kann, was es nicht irgendwann zurückfordert.“
Ich wollte es für eine alberne Dorfgeschichte halten – ein Versuch, einen Fremden zu verunsichern. Aber sein Blick war kein Spiel.
Ich weiß nicht, was es war. Angst vielleicht. Oder Mitleid.
Ich hätte umdrehen sollen. Es war der Moment.
Aber ich fuhr weiter. Vielleicht, weil ich jetzt wenigstens wusste, in welche Richtung.
Vielleicht auch, weil ich nichts mehr habe, wohin ich zurückkehren könnte.
Der Weg wurde schmaler, irgendwann hörte der Asphalt auf. Ein Feldweg, von knorrigen Ästen überragt, zog sich durch einen dichten Wald. Mein Auto stieß immer wieder mit den Reifen an den Rand, Zweige kratzten über den Lack, als würde der Wald selbst mir sagen wollen, dass ich nicht willkommen bin.
Dann, nach einer Ewigkeit, tauchte das Tor auf. Alt, rostig, mit Eisenverzierungen, die einmal kunstvoll gewesen sein müssen. Es quietschte beim Öffnen, als würde es sich sträuben. Dahinter das Haus.
Ein großes, zweistöckiges Gebäude aus dunklem Holz. Die Fensterläden hingen schief, das Dach schien in Ordnung, aber irgendetwas an dem Anblick ließ mir die Haare im Nacken aufstellen.
Ich stieg aus. Kühle Luft, kein Laut, kein Vogel, kein Wind.
Und dann war da dieses Gefühl.
Beobachtet zu werden.
Nicht so, wie man es kennt – nicht dieses vage, hinter sich etwas Spüren. Nein. Es war, als hätte das Haus selbst mich gesehen.
Und jetzt wartete es.
Zurück gibt es wohl nicht mehr.