Das Tagebuch: Kapitel 1.4 – Die Mitbewohnerin
22. April (Später Morgen)
Ich wurde durch ein Miauen geweckt.
Klar und deutlich.
Für einen Moment wusste ich nicht, wo ich war – die Ereignisse der Nacht hingen mir wie Nebel im Kopf.
Die Schreie, das Mädchen, das Buch… war das wirklich passiert?
Als ich mich aufsetzte, spürte ich jeden Muskel. Ich war erschöpft, obwohl ich eigentlich geschlafen hatte. Draußen war es hell, Sonnenstrahlen warfen Lichtmuster an die Wand.
Ich stand auf und ging Richtung Küche.
Der Boden unter meinen Füßen knarzte wieder.
Gestern Nacht war es so still gewesen, als hätte das Haus den Atem angehalten. Jetzt war es wieder… normal? Oder einfach nur anders.
In der Küche blieb ich stehen.
Mitten auf dem alten Holztisch saß eine schwarze Katze.
Groß, mit glänzendem Fell, regungslos.
Ein Auge war tiefblau, das andere braun – und beide blickten mich an, als wüsste sie mehr über mich, als mir lieb war.
Daneben lag das Buch. Das gleiche, das mir das Mädchen gegeben hatte.
Ich trat langsam näher, vorsichtig, als könnte sich etwas daran ändern, wenn ich zu schnell wäre.
Die Katze blinzelte nicht. Sie bewegte sich kein Stück.
Ich nahm das Buch in die Hand.
In dem Moment durchfuhr mich ein stechender Schmerz, direkt auf dem Handrücken – heiß, brennend, wie ein Stromschlag, der durch die Haut schnitt. Ich ließ das Buch erschrocken fallen.
Es klappte nicht auf, sondern schlug einfach dumpf auf die Tischplatte.
Und dann sah ich es:
Die goldene Verzierung – die Schlange auf dem Einband – bewegte sich.
Sie schlängelte sich, nur für einen Augenblick, als wäre sie lebendig. Dann erstarrte sie wieder, als wäre nichts geschehen.
Ich starrte auf meine Hand.
Dort, wo der Schmerz hergekommen war, waren jetzt zwei winzige Wunden.
Symmetrisch.
Wie ein Biss. Ein Schlangenbiss.
Ich blickte zur Katze.
Sie saß immer noch da.
Und blinzelte.
Dann miaute sie erneut.
Nicht laut, nicht fordernd – eher wie ein Gruß.
Ein stilles, selbstverständliches „Hallo, ich bin jetzt bei dir.“
Ich wollte etwas sagen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken.
Ein Schwindel überkam mich, plötzlich und heftig.
Die Küche verschwamm vor meinen Augen, die Farben zogen sich auseinander wie Wasserfarben auf nassem Papier.
Meine Beine wurden weich, der Boden unter mir verlor seine Richtung.
Das Letzte, was ich hörte, war das leise Miauen der Katze – tief und irgendwie… zufrieden.
Dann wurde alles schwarz.